Zu Grass für diese Welt?

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Ich kann auch nicht länger schweigen. So, jetzt aber Spaß beiseite. Die Beobachtung der Medienlandschaft dieser Tage zum Thema Günter Grass lässt zumindest einen Schluss zu: Die Presse kann nicht (mehr) mit Intellektuellen und ihren Stellungnahmen umgehen. Konnte sie das jemals? Gut, ist ne andere Frage. Hier drängt sich sicherlich noch die Vermutung auf, dass sie das eventuell gar nicht will, jedenfalls die nicht, die dazu vielleicht noch kognitiv in der Lage wären. Grass selbst spricht von Gleichschaltung. Soweit muss man aber gar nicht gehen, das Eigeninteresse, die Verflechtungen und Verknotungen der Konzernmedien und ihr daraus erwachsenes Selbstverständnis erzwingen geradezu diese Haltung. Zumindest vorerst. Dass diese „point of view“ von Heuchelei, Moralapostelei und einer strikten Weigerung der Auseinandersetzung mit Inhalten, sowie Etablierungsversuchen von Pseudo-Tabus geradezu überfließt, könnte ja amüsant sein, wenn es nur nicht so traurig und skandalös wäre. Das gebashte Gedicht muss lediglich gelesen werden, sonst nichts, steht ja alles drin. Ob es dazu mehr zu sagen gäbe? Na klar, endlich! Aber sicher nicht zu Grass‘ Person, Intention, Biografie, Motivation oder sonstigem persönlichen Antrieb, schon gar nicht zum geistigen Zustand, seiner angeblichen Stellung als Schriftsteller in der Gesellschaft, wo er gefälligst zu bleiben habe, etc. Er solle lieber seine „letzte Tinte“ für einen guten Roman aufsparen und sich nicht zur Politik äußern. Na sowas. Im Netz regt sich Widerstand. Mögen viele Provinzblättchen von der Welle an Leserbriefen wirklich noch überrascht worden sein, die deutliche Kritik an der „Kritik“ übten, so sind Lobbyisten einer faschistischen, zerstörerischen und tabuisierten Nahostpolitik woanders leicht auszumachen. Es sind die üblichen Verdächtigen. Und noch was: Womit eine Demokratie im übrigen klarkommen muss, ist der Applaus von falscher Seite.

Die Erwartung, Grass solle lieber Romane schreiben, wofür man ihn ja so liebe und wofür er schliesslich auch den Nobelpreis erhielt, ist albern, respektlos, dumm und zeugt von Ignoranz. Mich erinnert das stark an die dummdreist arroganten und teils schwachsinnigen Reaktionen auf die Anti-Kriegs-Tournee von Crosby, Stills, Nash & Young. Die sollten auch ihre tolle Musik spielen, aber Äußerungen von senilen Althippies zur aktuellen Politik? Nein danke! Mit dieser Diskrepanz im eigenen Gehirn müssen die Betroffenen leben, ich könnte es nicht. Ich nenn ja sowas gern und lapidar: Ins Hirn geschissen! Kritik ist hier natürlich erwünscht! 😉

Grass‘ Gedicht scheint eindeutig zu hoch für schlichte Gemüter. Unbemerkt bleibt die feine Ironie im Titel. Er bedient sich deutlich und plakativ rechter Formulierung, man erinnere sich an Sarrazin, nimmt oberflächliche Stilkritik vorweg und disqualifiziert so den Applaus aus brauner Ecke bereits im gleichen Wort. Man kann nun Grass alles vorwerfen, nur keinen Antisemitismus. Wer Netanjahu zum Gedicht befragt ist selber schuld! Dass der „Weltfrieden“ nicht nur brüchig ist, sondern eher kaum vorhanden, dazu braucht es kein Gedicht, das ist Wirklichkeit. Dass es gemeingefährliche Kriegstreiber in Israel gibt, so wie woanders auch, nur entschlossener, bereiter aber gleichzeitig geschützt und unantastbar, ist auch Wirklichkeit. Allein nur diese Tatsache zu tabuisieren ist das „no-go“, es ist die pervertierte Spitze einer verqueren Moralinszenierung, die den Unterdrückten, Besetzten und allen Leidtragenden zynisch ins Gesicht schlägt. Ja, es ist Zeit für eine Thematisierung und für eine würdevolle Diskussion, gerade angesichts unserer Geschichte. Der Holocaust ist Mahnung und kein Freibrief für eine Hetzjagd. Bitte keine Instrumentalisierung, Aufrechnung oder sonstige Unsachlichkeit mehr. Und ja, reden wir darüber, bevor es wirklich zu spät ist.

  Labrador Nelson für Netzpunk – 06.04.2012